Regional Headquarters und andere Formen regionaler Organisation in Lateinamerika
Einleitung
Bei der Entscheidung über die Organisationsstrategie für ihre Geschäfte und Strukturen in einer Region betrachten multinationale Unternehmen im Allgemeinen drei grundlegende Faktoren:
Nähe als Indikator für regionalen Handel und niedrige Logistikkosten
Wirtschaftliche Integration durch Freihandelsabkommen usw., die bevorzugten Marktzugang ermöglichen
Ähnlichkeiten in Konsumpräferenzen und Kultur
Unter Berücksichtigung dieser Faktoren analysieren sie, wie sie Wettbewerbsvorteile, Strukturen und Kosten auf regionaler Ebene optimieren können, üblicherweise durch irgendeine Form von Regional Headquarters, RHQs.
Im Gegensatz zu anderen Regionen stellt der intraregionale Handel in Südamerika einen geringen Anteil der Exporte dar (nur etwa 25%). Daran hat sich auch trotz vielfältiger Bemühungen nicht viel geändert. Grund sind fehlende funktionierender Wirtschaftsblöcke und Freihandelsabkommen sowie die überwiegend rohstoffbasierten Volkswirtschaften, die vom Export in andere Regionen wie Asien und Europa leben. Kulturelle Ähnlichkeiten und Konsumpräferenzen zwischen den Ländern der Region sind begrenzt und die Entfernungen sind gross.
Diese Situation stellt zunächst einmal die Vorteile einer regionalen Organisation in Frage: Wenn die Handelsinterdependenz in der Region gering ist, und die geografischen und kulturellen Entfernungen groß sind, scheint eine regionale Organisation kaum Mehrwert zu bieten, der die mit ihr verbundenen Kosten überkompensieren kann.
Es gibt jedoch andere spezifische Gründe für die Region, die die Bildung regionaler Organisationen in Lateinamerika begünstigen.
Mit Ausnahme einiger weniger Unternehmen erzielen europäische und US-amerikanische multinationale Unternehmen 3% bis 6% ihres Umsatzes in der Region. Dies entspricht in etwa dem Anteil Südamerikas am weltweiten BIP.
Das ist wenig. Die Hälfte entfällt zudem auf Brasilien. Für den gesamten “Rest” der Länder in Südamerika bleiben weniger als 3%. Das bedeutet geringe Umsätze, die auf viele kleine Märkte verteilt sind und eine hohe Volatilität aufweisen.
Bei Mexiko weiss keiner genau, ob es als Teil von NAFTA/USMCA zu betrachten ist, oder ob es zu den Ländern des Südens gezählt werden sollte. Aufgrund der Partnerschaft mit NAFTA/USMCA und des hohen Integrationsgrades vieler Unternehmen in Mexiko mit der US-Wirtschaft scheint es ratsam, die Organisationen nach Norden zu regionalisieren. Dies ist jedoch nicht immer so klar: Sprache und Kultur bringen Mexiko Südamerika näher und machen es z. Bsp. als Sitz eines RHQ einer spanischsprachigen Region in Lateinamerika attraktiv. Die Bedeutung der mexikanischen Wirtschaft für Südamerika nimmt seit Jahren zu, und bilaterale sektorale Freihandelsabkommen intensivieren den Handel. Beispiele sind America Movil als wichtiger Akteur in der Kommunikationsbranche in Lateinamerika und die Abkommen in der Automobilindustrie mit Argentinien und anderen Ländern der Region.
Diese Realität ist kompliziert für multinationale Unternehmen. Die einzelnen südamerikanischen Märkte sind für das Gesamtgeschäft in der Regel von geringer Bedeutung, und dabei aufgrund der hohen Volatilität in den meisten Teilen der Region eine Quelle unvorhersehbarer Kopfschmerzen und mitunter erheblicher Verluste. Daher erfordern sie mehr Aufmerksamkeit, als ihre Bedeutung für das weltweite Geschäft rechtfertigt. Das Verlassen der Region ist aber auch keine realistische Option. In einer (teil)globalisierten Welt müssen Unternehmen überall präsent sein, sei es, um eine maximale Absorption der Fixkosten durch größtmöglichen Umsatz zu erreichen, oder um den Kunden gerecht zu werden, die eine globale Betreuung verlangen.
Die geopolitischen Veränderungen seit der Corona Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und der sich möhlicherweise zuspitzenden Taiwan-Frage zwingen zu einer grösseren Diversifizierung der Lieferketten, wovon auch Lateinamerika profitieren wird. Darüber hinaus ist das (wenn auch ungleiche) Wachstum in der Region verlockend. Es wird aufgrund der steigenden Nachfrage nach in Südamerika und Mexiko produzierten Rohstoffen (wie Lithium, Kupfer, Soja, landwirtschaftlichen Produkten, Gas und Öl) in Zukunft noch attraktiver sein.
Deshalb ist die Regionalisierung der Geschäftstätigkeit in Lateinamerika nicht nur die Folge der Anerkennung der Region als strategische Einheit, sondern vor allem das Ergebnis ihrer gerade beschriebenen Besonderheiten. Heutzutage haben sich die meisten multinationalen Unternehmen für die Regionalisierung ihrer Geschäftsaktivitäten in Lateinamerika/Südamerika entschieden. Es gibt eine Vielzahl von Regional Headquarters für die Region - oder Teile davon - in Miami, Mexiko, São Paulo, Santiago, Panama, Bogotá und Buenos Aires. Die Vielfalt der RHQ-Standorte ist bereits ein deutlicher Hinweis darauf, dass Unternehmen die Regionalisierung ihrer Aktivitäten vorantreiben, jedoch noch kein anerkanntes Best-Practice-Modell entwickelt haben.
Wie kann eine regionale Organisation den Besonderheiten Südamerikas gerecht werden und Mehrwert schaffen? Die am häufigsten vorgebrachten Argumente auf einer noch längeren Liste sind:
Um die Berichtswege zur Firmenzentrale zu vereinfachen,
um Kosten zu sparen,
um kritische Masse für die Vorhaltung einer anspruchsvollen technischen Infrastruktur in der Region zu schaffen,
um eine grössere Aufmerksamkeit von der obersten Führungsebene zu erzielen und schließlich,
um in diesem volatilen Kontext schneller Chancen und Risiken zu erkennen und besser managen zu können
Die Definition der Region
Typischerweise beginnen Unternehmen mit dem Aufbau ihrer regionalen Organisationen, indem sie das Gebiet der Region festlegen.
Die Definition der lokalen Organisationen, die eine regionale Einheit bilden, ist komplex. Eine Vielzahl von Kriterien spielen eine Rolle: geografische und kulturelle Entfernungen, Sprache, vorhandene Infrastruktur, vorhandene Personalressourcen und vor allem (obwohl nicht immer als erste Frage gestellt): Welche Strategie habe ich für diese Region und welche Ziele verfolge ich mit der Regionalisierung?
Für die Analyse dieses Themas ist das Dreieck der drei "A" hilfreich, das Ghemawat vor vielen Jahren eingeführt hat, um das Spannungsfeld zu verdeutlichen, in dem sich internationale Unternehmen auf globaler Ebene bewegen:
Adaptation (von Produkten/Dienstleistungen zur Optimierung des Angebots für Märkte)
Aggregation (von Aktivitäten an wenigen Standorten, um von Skaleneffekten zu profitieren)
Arbitrage (die Suche nach Orten, an denen eine Aktivität kostengünstiger durchgeführt wird).
Diese drei "A" sind Ziele, die Unternehmen bei der Globalisierung ihrer Geschäfte verfolgen. Dabei ist es jedoch unmöglich, alle drei Aspekte gleichzeitig zu optimieren. Wenn Produkte für lokale Märkte adaptiert werden, geht wahrscheinlich Aggregation (Skaleneffekte) verloren, und die Suche nach dem kostengünstigsten Ort für eine bestimmte Aktivität steht im Widerspruch zur Adaptation für einen anderen Markt.
Man könnte einen vierten Buchstaben hinzufügen. Das "L" für Lernen (Die Suche nach Innovation in fortgeschrittenen und anspruchsvollen Märkten, ein wichtiger Grund für die Internationalisierung von Unternehmen und die Lokalisierung bestimmter Wertschöpfungsaktivitäten wie F&E oder Marketing).
Dieses Dreieck ist auch auf regionaler Ebene ein hervorragendes Analysetool. Das regionale Dreieck ergibt sich dabei aus dem globalen Dreieck: Die regionale Struktur ergibt sich als Folge der globalen Strategie. Die Betonung der Adaptation erfordert ein höheres strategisches und organisatorisches Gewicht auf lokaler Ebene. Eine hohe Aggregation hingegen erfordert eine vertikale Organisation mit Schwergewicht auf globaler Ebene. Das heißt, die regionale Einheit selbst ist Teil des strategischen Trade-offs des Unternehmens in seinem globalen Dreieck.
Das Ergebnis ist, dass bestimmte Aktivitäten der Wertschöpfung auf Länderebene (z. B. Kundendienst), andere auf regionaler Ebene (z. B. Produktion, Projektentwicklung) und andere auf globaler Ebene (z. B. F&E, Markenmanagement) organisiert werden.
Ein Unternehmen mit globalen Kunden organisiert sich anders als eines mit lokalen Kunden. Ein Unternehmen, das in erster Linie regionale Strategien zur Steigerung des Umsatzes in der Region umsetzen möchte, hat andere organisatorische Anforderungen als eines mit Schwerpunkt auf Kosten und Risikomanagement.
Die geografische Grundlage zur Definition der Organisation ist wahrscheinlich grundlegend falsch: In einer (semi)globalisierten Welt sollte nicht in selbständigen geografische Einheiten gedacht werden, unabhängig davon, ob sie nur ein Land oder eine Region umfassen. Die Organisation multinationaler Unternehmen zielt schon lange nicht mehr auf die Summe vieler relativ selbständiger lokaler Einheiten ab, die durch die von ihr abgedeckten Quadratkilometer definiert werden. Die Organisation basiert auf der Optimierung der Aktivitäten der gesamten Wertschöpfungskette, was zu komplexen supranationalen Strukturen führt, die Mitarbeiter erfordern, die in der Lage sind, mit verschiedenen Vorgesetzten an verschiedenen Orten zu arbeiten.
Dieses Konzept führt zu einer Entscheidungsmatrix mit unterschiedlichen Ergebnissen für jede Aktivität in der Wertschöpfungskette. Je weiter vom Kunden entfernt eine Aktivität ist, desto eher wird sie regional oder global organisiert. Je näher eine Aktivität dem Kunden ist, desto wichtiger ist der lokale Einfluss und die Fähigkeit zu schnellem und kulturell angemessenem Handeln.
Regionale Trends in der Praxis
Viele Unternehmen begannen ihre organisatorische Entwicklung in Südamerika mit einer regionalen Zentrale (RHQ) in Brasilien für ganz Südamerika. Die Überlegung dabei war, die kleineren Märkte vom größten Markt der Region aus zu bedienen.
In der Regel verfügen multinationale Unternehmen in Brasilien bereits über eine bedeutende Infrastruktur, die mit minimalen zusätzlichen Ressourcen (und daher minimalen zusätzlichen Kosten) auch die anderen Märkte der Region bedienen könnte. Allerdings scheint diese Logik nicht immer gut funktioniert zu haben. Ein sehr großer Binnenmarkt macht es oft weniger attraktiv, sich mit kleineren und scheinbar komplexen Märkten zu beschäftigen. Das enorme interne Potenzial Brasiliens überwiegt oft den notwendigen regionalen Geist, um eine Organisation aufzubauen, die von allen als Region betrachtet wird. Ein opportunistischer Ansatz baut keine regionale Organisation auf. Die Sprache spielt eine Rolle, ebenso wie die kulturelle Vielfalt der Länder Südamerikas.
Um eine übermäßige Konzentration auf Brasilien, haben mehrere Unternehmen ihre RHQs dort aufgelöst. Wenn es heute eine Art Trend gibt, dann den, Brasilien als "Insel" in Südamerika zu behandeln. Größe, Sprache und Kultur setzen es ab. Zusätzlich ist Brasilien Teil der BRICS, was es zu einem Mitglied einer anderen "Region" und einem Akteur in einer höheren Liga macht.
Die anderen Märkte in Südamerika, die zusammen ein Gewicht haben können, das fast so bedeutend ist wie Brasilien allein, werden zu einer oder zwei Regionen zusammengefasst, manchmal mit Unterregionen.
Die Vielfalt der verschiedenen Modelle und die ständigen Veränderungen in den regionalen Organisationen in Lateinamerika zeigen einerseits, dass es starke Argumente für eine regionale Organisation gibt, andererseits aber auch, dass es schwierig ist, eine Lösung zu finden, die in der Praxis gute Ergebnisse erzielt.
Die vergleichsweise geringe Handelsinterdependenz, kulturelle und sprachliche Unterschiede, erhebliche Unterschiede in der Marktgröße, geografische Entfernungen und Widerstand gegen Veränderungen erschweren den Erfolg einer regionalen Organisation erheblich.
Was anfangs als wichtigstes Thema erscheint (welche Region(en) und wo die RHQ zu platzieren sind), ist in Wirklichkeit die Folge anderer Überlegungen:
Zunächst einmal ist "Regional Headquarters" kein eindeutiger Begriff. Es gibt sicherlich keine zwei RHQs, die in ihren Aufgaben identisch sind. Versuche, sie zu klassifizieren, sind nicht besonders erfolgreich. Es gibt HQs, die sich mehr auf Strategie und ihre Umsetzung, auf strategische Stimulation, Informationsbeschaffung, Entwicklung neuer Geschäftsfelder und die Konsolidierung fragmentierter Ressourcen- oder Marktnachfrage konzentrieren.
Andere konzentrieren sich eher auf die Verbesserung von Effizienz und Produktivität durch Ressourcenpooling, Nutzung bewährter Verfahren und Koordination von Aktivitäten über geografische und divisionale Grenzen hinweg. Andere Firmen haben ihren RHQs eine Mischgung dieser Funktionen, oder ganz andere übertragen. Die Realitäten in den Regionen und den Märkten sind vielfältig und führen zu unterschiedlichen Aufgaben und Kompetenzen der RHQs.
Fazit
Als Fazit lässt sich sagen, dass Unternehmen regionale Organisationsstrukturen nur dann nutzen (sollten), wenn sie auf irgendeine Weise einen Mehrwert für das Unternehmen schaffen, die die mit ihnen verbundenen Kosten übersteigen. Das bedeutet, dass die Analyse nicht mit dem RHQ und der Organisation der Region beginnt, sondern mit den strategischen Zielen, die das Unternehmen für und in der Region verfolgt, um dann die geeignetste Organisationsform für die Umsetzung dieser Ziele zu finden (“Organization follows Strategy” bleibt gültig).
Erst nach einer gründlichen Analyse der Marktbedingungen, der kulturellen Unterschiede, rechtlicher und vor allem steuerlicher Rahmenbedingungen sowie anderer relevanter Faktoren kann eine geeignete Organisation für die richtige Balance zwischen zentraler Kontrolle und lokaler Anpassung gesucht und gefunden werden.
Schließlich ist die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen der regionalen Organisation und der globalen Zentrale von entscheidender Bedeutung. Der Informationsfluss, die Abstimmung von Strategien und die Nutzung von Synergien sind Schlüsselfaktoren für den Erfolg jeder regionalen Organisation.
Eine maßgeschneiderte und gut durchdachte Organisationsstruktur kann dazu beitragen, die Effizienz, Koordination und Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und das Wachstum in Lateinamerika zu fördern.
Matthias Kleinhempel